Die Neunheilinger Glocken

Aus der Glockengeschichte der Gemeinde Neunheilingen*

Trotz der äußerst kärglichen Nachrichten, die aus der Neunheilinger Vergangenheit im Archiv überliefert sind, ist es doch zur großen Freude des Verfassers noch gelungen, wichtige Daten aus der Glockengeschichte zusammenzufinden.
Das früheste Datum verdanke ich dem nachfolgenden Artikel unseres verehrten Mitarbeiters, Herrn Wilhelm Limpert. Es ist das Jahr 1569. Damals wurde das letzte Glöcklein vom Turm der Heilig-Kreuz-Kirche herübergeholt auf den Turm der St. Peter- und Pauslkirche. Es hat hier Ergänzugsdienst für eine zersprungene Glocke tun müssen. Ob es auch zu anderen Glocken tonisch gepasst hat? Es wäre ja möglich gewesen, daß man bei der Beschaffung der Glocke für beide Türme zueinander passende Geläute hätte gießen lasse,
Doch das Glöcklein hat sich da oben nicht recht wohlgefühlt. Im Schatten der großen Glocken kam es sich vielleicht zu klein vor. Beinahe 100 Jahre danach, zwei Jahrzehnte nach dem Ende des dreißigjährigen Krieges, ist diese Glocke ihrem Leid erlegen. Denn höchstwahrscheinlich ist sie gemeint in der Chroniknotiz, die da besagt: „Anno 1666, den 29 Juli, ist mit Johann Wolf Gruwe, Glockengießer zu Erfurt, wegen Umsetzung der ‚Vesper-Glocke‘ , die am Himmelfahrtstag 1665 zersprungen, der Contract gemacht worden, dafür bekomme er 26 Reichsthaler incl. 1 Zentner Frucht für Schrift zum Einsatz. Alles in allem für seine Mühe mit Metall zugleich 50 Reichsthaler.“
Aber auch diese neue Glocke von 1666 hat mit ihren älteren Schwestern kein langes Leben erreicht. Denn höchstwahrscheinlich um das Jahr 1730 (genau zwischen 1667 und 1821, wir hoffen später hierüber noch Genaueres zu finden), ist irgend ein Unheil über die Glocke gekommen, welches die Gemeinde Neunheilingen ihres Geläutes ganz oder teilweise beraubte. In Zeiten höchster Armut und Insolvenz wusste man nicht, wie man wieder zu neuen Glocken kommen sollte. Da sprang das hochgemute, um die Kirchengemeinde so sehr verdiente Patronatshaus des Grafen von Werthern ein, und sein Edelsinn schenkte der Gemeinde ein ganz neues Geläut (oder nur die Ergänzungsglocke?). Das muss ein Jubel damals gewesen sein, als die „Glocken des Grafen“, der geliebt und geehrt war im ganzen Dorf, zum ersten Mal zur Kirche riefen!
Aber auch dieses Geläut ist nicht alt geworden. War die Kunst des Gießens damals nicht auf der Höhe? Wir wissen´s nicht. Im Jahre 1842 ist wieder ein schwarzer Tag auf dem Glockenturm gewesen. Ein Rechnungsbeleg erzählt uns davon: „Apolda, den 20. Oktober 1842 wurde auf hiesiger Ratswaage gewogen im beysein Herrn Kirchenvorsteher Mehmel für die löbliche Gemeinde Neunheilingen zwey zerschlagene Glocken Wogen 31 ½ Zentner 1 ½ Pfund Welches bescheinigt Ernst Eckardt Verpflichteter Waagemeister.“ Irgend etwas war also geschehen. Ganz gewiss war eine Glocke zersprungen, vielleicht auch zwei. Waren beides vielleicht ältere Glocken, so daß Graf Werthern um 1730 nur eine neue geschenkt hätte? Jedenfalls – man ließ die Mittelglocke vom Grafen hängen und gab die beiden anderen (die große und die kleine 31 ½ Zentnerschwer) an die Glockengießerei in Apolda ab.
Zugleich aber – ein Ehrenpunkt jeder Kirchengemeinde! – schritt man in schwerster wirtschaftlicher Lage (starke Verschuldung durch den Gutskauf!) zur Ergänzung des Geläutes. Ein Rechnungsbeleg aus der Rechnung des Jahres 1843 berichtet bereits: „Apolda den 3ten Junius 1843 Wurde für die Kirche Neunheilingen auf hiesiger Ratswaage gewogen in beysein von Herrn Kirchenvorsteher Mehmel von dort Eine neue Glocke 25 ½ Zentner 15 ½ Pfund, eine dito 7 ½ Zentner 13 ¼ Pfund Summa 33 Zentner 1 ¼ Pfund Welches bescheinigt Ernst Eckardt Verpflichteter Waagemeister“. In diesem Beleg finden wir die zwei Glocken wieder, die uns bis 1917, ja deren große uns heute noch dient. Hier finden wir zugleich ihr amtliches Gewicht. Nach einer anderen Überlieferung, deren Herkunft nicht kontrollierbar ist, wiegt die große Glocke 29 Zentner 40 Pfund. Jedoch ist wohl dem obigen Wiege-zettel der Vorzug zu geben, wenngleich der Herr verpflichtete Waagemeister Eckardt ein schwacher Kopfrechner zu sein scheint, ut exemplum docet (das Beispiel zeigt es). Interessant ist auch ,daß in der gleichen Kirchenkassenrechnung eine Schuldurkunde über 200 Taler, welche die Gemeinde sich von Friedrich Christoph Pumpe in Altengottern geborgt hat, zu finden ist. Dies Geld hat mit zur Deckung der Glockenkosten gedient, welch sich auf 225 Reichsthaler, 27 Silbergroschen beliefen. Die niedere Summe erklärt sich daher, weil ja das Metall der abgelieferten alten Glocken in Anrechnung gesetzt war. Von daher gesehen scheint es sogar eine recht hohe Summe für damalige Verhältnisse gewesen zu sein. Sie wurde abgetragen in vier Raten zu je 56 Th. 14 Slbgr. 3 Pfg. in den Jahren 1844, 1845, 1846 und 1847. Der Kontrakt mit Ulrich in Apolda war am 1.12.1842 geschlossen. 1847 findet sich bei der letzten Abschlagszahlung der Vermerk: „dem Glockengießer Ulrich zur Erfüllung der stipulierten*¹ 225 TH. 27 Slbgr. für die Umgießung der 3 Glocken. Ratz, Pastor.“ Der damalige Kirchenvorsteher war der damalige Rendant Georg Caspar Mehmel.
Hier haben wir also das Geläute vor uns, welches der Gemeinde bis zum Jahr 1917 erhalten war. Leider fehlen sowohl 1843 wie auch 1917 bei der Abgabe alle Angaben über die Inschriften, die sie hatten. Das ist jammerschade, denn für die Mittelglocke hätten wir ganz gewiss zu mindestens das Alter feststellen können und zudem hat ja jede Inschrift auch ihre lebendige Beziehung zu der Zeit, die sie gegeben hat. Von der großen Glocke können wir sie gottlob heute noch ablesen.
Das Geläute hatte die Töne d, fis, a.
Die große Glocke (die heute noch die große ist) mit dem Ton d wiegt 25 Zentner 65 ½ Pfund (andere Überlieferung 29 Zentner 40 Pfund) und trägt folgende Inschrift:

Gott segne und erhalte Neunheilingen
Kirche zu St. Petri und Pauli in Neunheilingen
Ohne Geist und ewiges Leben
Dien´ ich dem Herrn:
Beides ist euch Menschen gegeben:
Dienet ihm gern
Gegossen von Carl Friedrich Ulrich in Apolda 1843

Oben am Glockenmantel auf der Inschrift entgegengesetzten Seite ist kurz nach dem Guss eine Münze, wohl ein Reichsthaler, eingedrückt, auf welcher der Kopf Friedrich Wilhelms IV. König von Preußen abgebildet ist.
Die mittlere Glocke mit dem Ton fis war die Werthern-Glocke und wog nach sachverständiger Berechnung etwa 12 Zentner. Von ihr ist gar nichts überliefert. Die kleine Glocke mit dem Ton a aus dem Jahre 1843 wog nach obiger Notiz des Waagemeisters 7 Zentner 38 ¼ Pfund. Auch von ihr wissen wir nichts mehr.
Auf dieses Geläut war Neunheilingen stolz und auch in Nachbardörfern hört man hier und da dies alte Geläute, was weithin über die Lande geklungen hat, noch rühmen.
Es fiel, wie das Geläute in Issersheilingen, wie die meisten Geläute im Vaterland, dem Krieg zu Opfer. 1917 verließen die mittlere und die kleine Glocke den Turm. Alle Vorwürfe, die heute noch gegen den damaligen Gemeindekirchenrat erhoben wurden sind unrecht. Der Gemeindekirchenrat konnte nicht anders handeln. Er hätte höchstens die große Glocke statt der mittleren abliefern können, um diese, ein wertvolles Gedenkstück der Zukunft zu erhalten.
So war auch unser Turm zunächst seines vollen Geläutes beraubt. Nur die große Glocke klang traurig über die Gemeinde herab. 1920 hat sich dann zu ihr die Kirchheilinger Bonifatiusglocke gesellt, deren reiche Geschichte hierunter besonders erzählt ist. Nicht die Gemeinde Neunheilingen hat sie haben wollen, sondern der Gemeinde Kirchheilingen lag sehr daran, sie an uns loszuwerden. Daß es dennoch zum Segen ausgeschlagen ist, werden wir noch sehen.
Und sieben Jahre später, im Oktober 1927, ist die dritte, die Heilingsglocke, zu den beiden gekommen. Das war ein heller, stolzer Tag, und unsere Kindeskinder werden es kaum noch wissen, wie traurig es war, als Neunheilingen kein volles Geläut hatte.
So haben wir auch in unserer Gemeinde eine lange Glockengeschichte verfolgen können, deren Marksteine die Jahre 1569, 1662, 1666, ca. 1730, 1842-1843, 1917, 1920 und 1927 sind. Nun aber wünschen wir von Herzen, daß es für immer ein Ende habe mit der Glockennot.

*Quelle: „Der Heilinger Bote“ 4. Jahrgang, 1927, Nr. 8, Herausgeber und Verfasser: Pfarrer Hans Falckner
*¹ vertraglich oder mündlich vereinbart

Das letzte Heilig-Kreuz-Glöcklein Neunheilingens *²

…Wie lange schon schweigt der kleine Turm der Kapelle vor dem Südtor unseres Dorfes? Selbst die unter uns, die an das biblische Alter heranreichen, hörten niemals von dort draußen eine Glocke rufen. Und doch war einst auch dieser Turm lebendig und trug eine Glocke. In einem alten Dokument, dass über interessante Ereignisse in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts berichtet … findet sich eine kurze Notiz über diese Glocke. Danach wurde sie vor 350 Jahren im Jahre 1569 abgenommen, „alldieweil sie daselbst niemands nutz ist“ und auf dem Turm von St. Peter und Paul „anstatt der zerbrochenen geschafft“ ….

*²Quelle: „Der Heilinger Bote“ 4. Jahrgang, 1927, Nr. 8, Verfasser: Wilhelm Limpert.

Die Kirchheilinger Bonifatiusglocke in Neunheilingen*

Auch in Kirchheilingen hatte das Kriegsjahr 1917 dem Glockenturm unheilbare Wunden geschlagen. Die große und die kleine Glocke waren abgeliefert. Die Mittelglocke, die von nun an den Namen führen soll, den sie trägt, die „ Bonifatiusglocke“, hing allein oben in dem spitzen Turm. Kirchheilingen konnte das Elend nicht so lange mit anhören wie die Nachbargemeinden. Kirchheilingen unter Pastor Walthers Führung war die erste Gemeinde im Umkreis, die dazu Schritt, vom Krieg zerstörtes wieder aufzubauen. Aber man wollte ganze Sache machen. Bronzeglocken waren unerschwinglich im Preis, so kaufte man drei „Stahlglocken“, ein harmonisches Geläut. Aber da war die Mittelglocke, die bronzene Bonifatiusglocke, übrig. Was sollte aus ihr werden? Man brauchte Geld! Neunheilingen fand sich schließlich als Käufer.
Am 18. Dezember 1920 wurde sie an uns übergeben im Bronzegewicht von 540 kg mit Ton a, das Kilo zu 30 Papiermark, die Glocke mit !Montage und Fracht“zu 16489 Papiermark 50 Pfennigen. „Zahlbar binnen acht Tagen an Schilling und Lattermann, Apolda“. Also Kirchheilingen hat aus dem Erlös einen großen Teil seiner neuen Glocken bezahlt, und wir Neunheilinger freuen uns darüber von ganzen Herzen. Vom Tage der Zahlung an war die Bonifatiusglocke unser Eigentum. Ihr Wert beträgt heute in Geld 800 bis 1200 Mark. Wir Neunheilinger wollen ehrlich gestehen, daß wir diese Glocke lange Jahre gründlich gehasst haben, fast ausnahmslos gehasst. Es ist selten in der Welt, daß sich Hass in Liebe wandelt. Aber die Bonifatiusglocke hat es erlebt., daß sich der Hass, der ihr entgegengebracht wurde, in Liebe verwandelt hat. Freilich wir sind noch einmal so ehrlich, zu bekennen, daß wir sie rücksichtslos „unter den Hammer“ gebracht hätten, hätten wir sie weiter hassen müssen. Aber die Kunst eines Meisters hat es zuwege gebracht, daß wir sie lieben.
Ja, sie ist nun unsere liebe Bonifatiusglocke, die alte Glocke mit der wundersamen Geschichte. Der Gemeindekirchenrat von Kirchheilingen hat sie „überreicht mit dem Segenswünsche, daß diese kostbare Glocke, die uns fast 450 Jahre zu Freud und Leid zur Kirche geläutet hat, der Gemeinde Neunheilingen den gleichen Dienst tun möge“.
Fast 450 hat sie drüben gehangen und gelebt. 1474 ist sie in der Werkstatt eines Meister Rabe oder Taube (oder so ähnlich, ein lieber unbekannter Freund aus Leipzig wird’s uns noch herausbekommen) gegossen. 1474! Neun Jahre vor Martin Luthers Geburtstag. Seitdem lebt sie im Heilingslande. Sie trägt den Namen, den ihre erste Kirche trägt, den Namen des Mannes, der uns das Christentum gebracht hat: St. Bonifatius. Was hat sie alles in Kirchheilingen erlebt! O der unzähligen Tränen, die unter ihrem Klange an Gräbern geweint sind! O der vielen, vielen dankbaren Gebete, die bei ihrem Rufe junge Mütter, die ihr Kindlein zu Taufe trugen, zum Himmelszelt schickten! O der heiligen Stunden, zu denen sie so manches Brautpaar von drüben und hüben zu Altar rief! Was hat sie alles erlebt! So manche Feuer- und Unglücksnacht hat sie bis in die Seele hinein erschüttert. So manche Seuche zu verhüten hat sie zur Betstunde die Heimgesuchten versammelt. So manches Kriegsgeschrei hat ihre Ruhe da oben gestört. Ja auch ihr hat man nach dem Leben getrachtet. Es geht in Kirchheilingen eine alte Sage von der Bonifatiusglocke um. Oben auf dem „Danzig“, das ist die Höhe an der Straße nach Allmenhausen zu, etwa 1 km vom Ort entfernt, da wäre sie eines Tages von einer weidenden Sau aus dem Erdboden gewühlt und von den Einwohnern ins Dorf und auf den Turm gebracht. Sagen haben ihren wahren Kern. Bronzeglocken waren ein edles Metall, im Dreißigjährigen Kriege oder in unsicheren Zeiten, marodierenden*3 Soldaten, plündernden Räuberbanden zum Eintausch gegen klingende Münze herzlich willkommen. Sollten die Kirchheilinger Bauern in solchen Zeiten der Gefahr die teure Glocke, um sie zu schützen, vom Turme heruntergeholt und oben auf dem „Danzig“ im Erdreich verborgen haben ein, zwei, drei Jahrzehnte? Und dann als wieder Ordnung, Ruhe, Frieden im Land war, in feierlichem Zuge wieder heimgeholt haben? So undenkbar wäre das nicht. Sie hat ihre reiche Geschichte und wie alles , um das sich Sage weht, ihre reiche Liebe. Sie ist älter und älter geworden, aber hat gedient und geklungen unverwegt. Ihre jüngeren Zeitgenossen sind längst wieder dahin. Aber sie lebt noch. Ja, auf ihre ganz alten Tage hat sie noch einen „Stellungswechsel“, wie wir alten Artilleristen sagen, durchgemacht. Und wenn ihr sie heute von unserem Turme hört, lieben Kirchheilinger, ich wette 10 gegen 1, Ihr glaubt nicht, daß es eure alte Bonifatiusglocke ist, so jugendlich so weich, so lieb ist ihr Klang wieder bei uns geworden.
Man hat uns viel von ihr erzählt. Aber eins, was ich gern wissen wollte, hat man uns nicht verraten: wie ihre Inschrift lautet: Und das verrät auch das so freundliche und vollständige Übergabeprotokoll nicht. Und das verrät auch das Kirchheilinger Kirchenbuch, das sonst so manches erzählt, nicht, wie mühsam ich´s auch durchgeblättert habe. Und doch ist diese Inschrift bedeutsam. Wir hatten keine Ruhe, bis wir sie raus hatten. Wie sie nun da steht, wird mancher Gelehrte da meinen: Na, wie kann das Schwierigkeiten machen! Ja freilich, jetzt ist´s einfach, teure Herren, wo ihr´s so fein sauber und ohne kratzen und putzen und ohne stundenlang oben auf dem Turme an der Glocke rätseln zu müssen, vor euch seht in verkleinertem Maßstab. Dies ist die formtreue Inschrift unserer lieben Bonifatiusglocke:

In unserer lateinischen Schrift heißt das ausgeschrieben: Anno Domini 1474 sanctus bonifacius et verbum caro factum est o rex gloriae Christe veni nobis eum pace. Die Inschrift bezeichnet also nacheinander das Jahr der Gießung, den Namen der Glocke, zwei bekannte Bibelsprüche und endlich wird sie beschlossen durch das Glockengießerzeichen, den Kreis mit dem Vogel. Zu Deutsch übersetzt lautet die Inschrift:

Im Jahre de Herrn 1474
Sankt Bonifatius
Und das Wort ward Fleisch
O Christe, König der Ehre, komm uns mit Frieden.

Welche tiefe christusgläubige Frömmigkeit atmet die Inschrift! Das ist andere Zeit als unsere Zeit heute. Und diese Frömmigkeit wird bestätigt in den Plastiken, die noch links und rechts auf die Glocke aufgegossen sind. Auf der einen Seite sehen wir den gekreuzigten Christus, herb, ohne alles schmückende Beiwerk, nackt in der Stunde der tiefsten Erniedrigung – „eine Torheit denen, die verloren werden, uns aber, die wir selig werden, ist´s eine Gotteskraft“. Auf der entgegengesetzten Seite verrät sich freilich echt katholische Art, kitschig in der Darstellung, ein Hochaltar mit dreifachem Stockwerk, in der unteren Etage Gottvater thronend , in der mittleren der Sohn am Kreuz mit den Schächern und oben die Mutter Gottes Maria verklärt. Dieses Bildnis trägt auf ganz schmaler Leiste unten am Fuß auch eine Inschrift, die aber so verbeult ist, daß an ihre Entzifferung nicht zu denken ist, es sind ganz kleine Buchstaben etwa 6 oder 7 Worte. Alle Liebesmüh hierum wird vergeblich bleiben. Und das andere genügt völlig, uns mit dem Geist der Urväter die sie gießen ließen, vertraut zu machen.
Nun, wo sie rein und weich und klar im Klang ist, wissen wir, was wir an dieser Glocke haben. Sie ist zwar alt, so alt, daß wir, wäre sie ein Mensch, sie als einen Greis in den hohen achtzigern bezeichnen würden. Aber sie ist unser Kleinod. Sie verbindet uns zugleich mit Euch Kirchheilingern drüben. Möge sie uns lange noch zum Segen sein!

*3 marodieren = wüten, brandschatzen,

Die neuen Glocken und die neuen Geläute von Neunheilingen und Issersheilingen*

1. Anlass der Vervollständigung

… Anders lag die Sache in Neunheilingen. Es hingen ja seit 1920 wenigstens zwei Glocken oben auf dem Turm. Und wenn das Zweigeläut mit der fehlenden Mittelglocke auch niemand gefiel, es läutete wenigstens. Aber doch gab es auch hier viele Stimmen, in der Gemeinde, die wünschten, daß endlich wieder ein volles schönes Geläut geschafft würde. Schon 1925 lief eine später zurückgezogene Glockenspende beim Pfarramt ein. Da ging im Frühjahr dieses Jahres das Lager der großen Glocke wieder kaputt. Da sie von zwei Mann getreten wurde, war das Läuten bei dem kaputten Lager lebensgefährlich und musste eingestellt werden von Pfingsten ab. Eine große Reparatur stand wieder, wie etwa alle zwei Jahre, in Aussicht. Wieder Geld zum Fenster hinauswerfen, für eine verlorene Sache? Der Gemeindekirchenrat wollte die Verantwortung nicht tragen. Denn man wusste ja, in zwei Jahren sind wir bestimmt wieder so weit. Er beschloss mit Ernst an eine wirkliche Lösung der Glockennot heranzugehen. Die Stimmung in der Gemeinde wuchs stark unter den kläglichen Klängen des kleinen Glöckleins. Der Kirchenbesuch ging in diesen Wochen stark zurück. „Eine Kirche ohne Glocken ist keine Kirche, da geh ich nicht hin.“ Am 24 Juli 1927 fassten die kirchlichen Körperschaften einstimmig den einzig notwendigen und richtigen Beschluss: Abriss des alten defekten Glockenstuhls, Aufbau eines neuen Glockenstuhls, Ergänzung des Geläutes durch eine neue Bronzeglocke, Umlegung der vorhandenen Glocken auf neue Lager mit neuen Jochen. Instandsetzung der alten Bonifatiusglocke und Einbau von elektrischen Läutemaschinen zum elektrischen Antrieb der Glocken. Ein schwerwiegender, kostspieliger aber notwendiger Beschluss.
Drei Tage später waren die Bestellungen für beide Gemeinden der Firma aufgegeben. Die Sache lief.

2. Schwierigkeiten der Aufgabe

Noch 1905 schrieb Pastor Otte: „ Es sind, um ein harmonisches Geläute zu bekommen, alle drei Glocken erneuert.“ Noch 1920 gab Pastor Walther, um ein harmonisches Geläute zu bekommen, eine so tief und eng mit der Geschichte Kirchheilingens verwachsene Glocke, wie die Bonifatiusglocke, ab. – Gingen wir nicht einen gefährlichen Weg? Wussten wir nicht wie viele, viele Geläute in der Nachkriegszeit verdorben sind durch Ergänzung fremder Glocken? Wie oft ist versprochen worden, die neue Glocke würde bestimmt passen – und dann passte sie doch nicht. 1906 war´s noch das einzig Richtige, sich nicht auf eine Ergänzung einzulassen, sondern ganz neue Geläute zu schaffen. 1920 wäre das nicht mehr nötig gewesen.
Denn die Glockengießerkunst hat in unserer Generation ungeheure Fortschritte gemacht. Sie ist vom Handwerk zur Wissenschaft übergegangen, vom Zufall zur exakten Kunst. Freilich dieser Fortschritt verkörpert sich nur in einer Person, in dem weit über die grenzen Deutschlands hinaus berühmten Professor Dr. Biehle – Berlin/Bautzen*4, dem ersten Sachverständigen der Glockenkunst, den Deutschland besitzt. Und seine Wissenschaft wird nur von einer Glockengießerwerkstatt verwertet, vom Lauchhammerwerk im Lauchhammer, Provinz Sachsen, berühmt durch seine alte Bronzegießerei, aus der das Lutherdenkmal in Wittenberg hervorgegangen ist. Sie trat, angeregt von hoher kirchlicher Stelle als jüngstes Glied in den Kreis der Glockengießer. Aber sie hat in Professor Biehle den Meister der gegenwärtigen Glockengießerkunst gefunden und ist unseres Erachtens dadurch allen Glockengießerwerkstätten, wie gut ihre Namen auch klingen mögen, weit überlegen. Es bestand für uns von vorn hinein kein kein Zweifel, daß die Aufgabe in beiden Gemeinden nur vom Prof. Biehle in Verbindung mit dem Lauchhammerwerk gelöst werden könnte, Anders hätten wir es nicht wagen dürfen, zu „ergänzen“. Ihm und seiner Werkstatt aber haben wir uns zuversichtlich anvertraut. Er und das Lauchhammerwerk haben uns die Aufgabe glänzend gelöst. Und wie schwierig war sie.
…. Noch schwieriger war die Aufgabe, die es für Prof. Biehle in Neunheilingen zu lösen galt. Hier fand er zwei in sich fremde Glocken, die aus zwei verschiedenen Geläuten stammten vor. Passten denn überhaupt die beiden Glocken zusammen? Sie passt sagten die Einen. Sie passt nicht, fanden die meisten Anderen. Sie sind sehr, sehr eindringlich und sorgfältig untersucht worden. Aber das Ergebnis des Herrn Professor war: Sie passen. Die große, der ursprüngliche Bestand des früheren Geläutes, sei durchaus geeignet als Ausgangspunkt zur Ergänzung. Sie stelle ein im Vergleich zu der gegenwärtigen Stimmung zu hohes d dar. Die Bonifatiusglocke – ein zu hohes a – sei in ihrem Klangbild durchaus nicht ungünstiger als die große. Die Schlagtöne der beiden Glocken stimmten sehr genau zueinander und bilden eine reine Quinte. Aber freilich, als sich der Herr Professor dann die Glocken aus der Entfernung vorläuten ließ, war er selbst überrascht über die „wenig angenehme Läutewirkung“, die die Bonifatiusglocke hatte. Und um ihretwillen hatten auch die Leute im Dorfe recht, die da meinten „sie passen nicht zueinander“. Aber Prof. Biehle wusste einen Ausweg. Die wenig angenehme Läutewirkung ließe sich durch drehen der Glocke und Ersatz des Klöppels durch einen neuen voraussichtlich verbessern. Und es sei zu hoffen, daß bei ganz genauem Zuguß der Ergänzungsglocke die kleine Glocke sich besser einfüge als bisher. Die Voraussetzung wäre freilich, daß die neue Glocke in sich vollkommen rein sei und gleichzeitig so berechnet, daß sie die kleine Glocke tonlich stütze. Diese Aufgabe zu lösen, sei nicht einfach, aber sehr wohl möglich. Als Ergänzung käme ein etwas zu hohes fis in Frage.
Nun war freilich der alte eichene Glockenstuhl überfällig. Zwar waren es mächtige eichene Balken, noch durch und durch gesundes Holz, aber es war so stark ausgearbeitet und verzogen, daß es jedes Geläut, was er zu tragen hatte, immer wieder gefährden musste. Dazu kam noch eins. Es reichte nicht mehr aus. Die Bonifatiusglocke schon war beträchtlich schwerer und größer als die alte Neunheilinger kleine Glocke von 1843. Sie hatte dementsprechend in Joch der alten Werthernschen Mittelglocke Platz finden müssen. Für die neue Mittelglocke aber fehlte jeder Platz zum Unterkommen. Frei war nur noch das alte kleine Joch. Und die neue Mittelglocke in schwerer Rippe*5 würde so bedeutend größer sein als ihre Vorgängerin. So musste wir uns um dieser beiden durchschlagenden Gründe willen schweren Herzens entschließen, den alten Glockenstuhl abbrechen und durch einen neuen eisernen ersetzen zu lassen. – Schweren Aufgaben saßen wir uns gegenüber.-
Sie sind gelöst. Und so glänzend und wundervoll gelöst, daß es in beiden Gemeinden nur eine Stimme gibt: Des Lobes und Dankes gegen Gott und gegen den Meister Biehle und sein Werk, die uns so prächtige Geläute beschert haben. Es ist etwas ganz Eigenes um beide Geläute. Nichts Alltägliches. Etwas ganz besonderes, Feines, Verhaltenes liegt in ihrem Klang und ein tiefer Zauber singt sich in das Herz des andächtigen Frommen, der ihrem Klange lauscht. Wir sind die letzten der vier Heilingsgemeinden, die ihre Glocken wieder geschaffen haben. Aber es hat sich das alte Wort bewährt: „Was lange währt, wird gut.“ Nur Bronzeglocken aus edelstem Metall dienen unseren Gemeinden. Für Stahl haben wir uns nie begeistern können.

3. Die neuen Glocken

… Neunheilingen hat eine Bronzeglocke erhalten. Ihre Inschrift soll uns und unsere Kindeskinder daran erinnern, daß sie in einer Zeit deutscher Erniedrigung angeschafft worden ist und daß nur droben Rettung und Hilfe zu suchen ist. Ihren Namen habe ich ihr nach dem Land gegeben, über dem sie läutet. Oben im Kranz sind die Gemeindeglieder vermerkt, welche besondere Opfer für sie brachten: „Besondere Opfer brachten für mich: die Kirchenverordneten Louis Mörstedt und Louis Kraft; Waldemar Kraft, Louis Blankenburg, der Kirchmeister; Karl Rheinländer, der Küster; Hans Falckner, der Ortspfarrer.“ Auf dem Glockenteller steht: „Lauchhammer 1927, Biehle-Rippe 36-3.“ Die große Inschrift auf der Glockenwand lautet:

Heilingsglocke bin ich genannt,
Schirm´ euch das Heilingsland,
Rufe aus Schmach und Schmerz
Aufwärts das deutsche Herz.

Die Glocke ist wie ihre Issersheilinger Schwestern aus Elektro-Bronze in bester Legierung (78 Prozent Kupfer und 22 Prozent Zinn) hergestellt, wiegt in schwerer Rippe gegossen ohne Klöppel 879 Kilo (der Klöppel dazu 84 Kilo), hat einen unteren Durchmesser von zirka 1112 mm und kostet mit Klöppel 3030 Mark. Sie hat den Ton fis.
Der neue eiserne Glockenstuhl wiegt zirka 2250 Kilo, die Bonifatiusglocke und die große Glocke sind beide um 45 Grad gedreht, so daß ganz neue Anschlagstellen geschaffen sind, und beide mit neuen Klöppeln mit Bronzeballen versehen. Sie sind beide auf neue Joche mit Wälzlagern, wie sie auch die neue Glocke hat, gelegt. Durch den neuen Glockenstuhl hängen sämtliche Glocken ein bis zwei Meter höher als früher, so daß jetzt der volle Schalle zu den Schalllöchern herausdringen kann und dementsprechend das Geläute weiter reichen muß als früher. Die Glockenstube ist neu gedielt und neu ausgeputzt, der Aufgang wesentlich bequemer als früher. Die elektrischen Läutemaschinen, welche eine wesentliche Verbilligung des Läutens in Zukunft bedeuten werden, sind nach dem Schieferstein-Schwingsystem*6, wie ein gleiches z.B. auf dem Magdeburger Dom arbeitet, gebaut und werden in dieser oder der nächsten Woche montiert. Für hoffentlich ausnahmslose Fälle, in denen der Strom versagt, kann jederzeit mit der Hand geläutet werden. Die Glocken sind jetzt erheblich leichter zu läuten als früher. Ein treten der großen Glocke kommt nicht mehr in Frage.

4. Die neuen Geläute

GlockeMetallTonJahrDurchmesserGewichtWertGießer
Große GlockeBronzed18431360 mm1283 kg5000 MkUlrich
HeilingsglockeBronzefis19271112 mm879 kg3030 MkLauchhammerwerk
BonifatiusglockeBronzea1474955540 kg1000 MkRabe ?
Summe Zeitwert2702 kg9030 Mk

Das alte Neunheilinger Geläut von 1917 wog insgesamt zirka 2232 Kilo und hatte nach Auskunft des Lagerbuches einen Wert von 7120 Mk.

*Quelle: „Der Heilinger Bote“ 4. Jahrgang, 1927, Nr. 8, Herausgeber und Verfasser: Pfarrer Hans Falckner

*4 Johannes Biehle (* 18. Juni 1870 in Bautzen; † 10. Januar 1941 in Bautzen) war Physiker, Glocken- und Orgelbauer sowie Professor und Vorsteher des Instituts für Raum- und Bau-Akustik, Kirchenbau, Orgel-, Glockenwesen und Kirchenmusik an der Technischen Hochschule Berlin sowie Dozent für Kirchenkunde an der Berliner Universität.

*5 Mit Glockenrippe bezeichnet man den vertikalen Schnitt (Längsschnitt) einer Glocke, der den Wandungsverlauf vom untersten Rand (Schärfe) bis zur Haube zeigt

*6 Heute nicht mehr verwendeter Glockenantrieb durch Reibungskopplung (Dämpfungskopplung)

Nachtrag aus „Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete“ von 1879

… Auf dem Turm hängen 3 Läute- und 1 Schlagglocke, die ersteren 1,38; 1,03; 0,88 m Durchmesser, die letztere 0,80 m Durchmesser haltend. Von den Läuteglocken ist die größte und die kleinste 1843 von Ulrich in Apolda, die mittlere 1789 von Joh. Lorenz Koch in Mühlhausen gegossen worden. Die Seigerglocke (Uhr) hat die Inschrift (1533):

CARNE VOS OBENTBROT ANNO MCCCCCXXXIII