Die Neunheilinger Glockengeschichte nach 1927

Nur wenige Jahre konnten sich die Neunheilinger ihres 3-Stimmigen Geläutes erfreuen. Begründet mit dem bevorstehenden Führergeburtstag erließ Generalfeldmarschall Hermann Göring am 27. März 1940 den Aufruf zur „Metallspende des deutschen Volkes“. 

Ziel war, wie schon im Ersten Weltkrieg, die Beschaffung kriegswichtiger Rohstoffe. In reichsweit flächendeckend eingerichteten Sammelstellen wurden Metallgegenstände vor allem aus Messing, Kupfer, Bronze, Eisen und Zinn angenommen und zum Einschmelzen verbracht. Als Dank erhielten die Spender eine Urkunde des Führers. Appellaten waren nicht nur Kirchengemeinden, sondern auch Kommunen, Firmen, Vereine und Privatpersonen. Abgeliefert werden mussten u.a. Pokale, Münzen, Kochgeschirr, Blasinstrumente, Denkmäler und eben auch Bronzeglocken.

Die NS-Verwaltung klassifizierte die Glocken in die Typen A, B, C und D. Die Typen C und D repräsentierten historisch wertvolle Glocken. Während A und B sofort hergegeben werden mussten, war Typ C in „Warteposition“, wohingegen Typ D geschützt war. Für Neunheilingen bedeutete dies, daß die Große Glocke (1843) und die nicht einmal 15 Jahre alte Heilingsglocke (1927) sofort eingezogen wurden. Die Bonifatiusglocke (1474), unsere kleinste und älteste und damit wertvollste, durfte auf dem Turm verbleiben. Leider gibt es zu diesem düsteren Thema keine Informationen oder Nachweise in der Gemeinde, weder aus mündlicher Überlieferung noch in Bild oder Textform. Das Protokollbuch der Kirchengemeinde besteht aus gerade mal 3 Seiten für den gesamten Zeitraum 1939 – 1945. Wann wurden die Glocken abgenommen?, Wer half mit beim Abbau?, Wohin wurden sie transportiert? Wurden sie noch zu Kriegszeiten eingeschmolzen oder erst viel später, weil sie durch unsachgemäße Stapelung auf den Glockenfriedhof Risse bekamen und damit für die weitere Nutzung unbrauchbar waren? Fragen über Fragen die heute keiner mehr beantworten kann. 

Bonifatiusglocke mit neuem Joch

Die  Bonifatiusglocke ist die Glocke die bis zum heutigen Zeitpunkt als einzige ihren Dienst versieht.

1976, bei Abnahme des Kirchendaches, oder vielleicht auch schon früher wurde der Kirchturm vom 3-Phasen-Stromnetz getrennt. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war das Läuten nur noch von Hand möglich, denn  der Motor und Anlasser der Läuteanlage benötigten Kraftstrom.

Als der Verfasser im Jahre 1986 den Dienst als Organist und Küster antrat, bat sich ihm ein entsetzliches Bild: In der Ruine von Holunderbüschen überwucherte Berge von Bauschutt. Im Turm verstreut die Überbleibsel der demontierten elektrischen Läuteanlage, Klöppel der beiden alten Glocken und Teile der Turmuhr. Die Schallluken waren zum Teil defekt oder ließen sich nicht mehr öffnen. Im Glockenstuhl hing verwaist und einsam die alte Bonifatiusglocke. Am Joch baumelte ein Strick, mit der die Glocke bei Bedarf mehr schlecht als recht geläutet wurde. Das Thema „Küsterdienst“ zählt ebenso wie die gesamte Geschichte der Peter und Paul Kirche von Kriegsende bis in die 1970er Jahre nicht zu den Rühmlichen.

Turmuhrwerk J.F. Weule Bockenem 1886
Seigerglocke Stundenschlag (links) und Viertelstundenschlag

Im Frühjahr 1986 wurde der Turm der aufgeräumt und die Luken repariert bzw. erneuert. Der Verfasser schaffte es den elektrischen Antrieb so zu modifizieren, so daß es möglich wurde die Glocke wieder elektrisch zu läuten.

Ebenfalls in dieser Zeit konnte die Turmuhr wieder in Betrieb genommen werden. Die Uhr war, nach verschiedenen Aussagen der Bevölkerung, schon viele Jahre defekt und nicht mehr reparierbar. Sogar ein Uhrmacher habe sich an ihr Versucht, aber keinen Erfolg gehabt. Tatsache war: Ein größerer technischer Defekt am Uhrwerk lag nicht vor, lediglich die 3 Gewichte (Werk, Stundenschlag, Viertelstundenschlag) lagen zerstreut in der Ruine in den Holundersträuchern und die Seile zu den Hammern der beiden Seigerglocken waren defekt.

Daraufhin wurden die Seile erneuert und die Lager der des Uhrwerks gereinigt und geölt. Die Gewichte wurden ein gehangen und von nun an einige Wochen mit der „richtigen Masse“ experimentiert. Reicht das Gewicht des Uhrwerks nicht aus, geht die Uhr zu langsam, d.h. Sie geht ständig nach. Im ungünstigsten Fall reicht die Kraft nicht aus um das Pendel in Bewegung zu setzen, die Folge: sie stehen. Ist das Gewicht zu groß, erhöht sich auch die Kraft, die auf die Hemmung wirkt – die Uhr läuft „zu hart“. Ein schneller Verschleiß der Hemmung sowie eine Zerstörung derselben wäre die Folge.

Zu Pfingsten, am 16.05.1986, war nach vielen Jahren der Stille zum ersten mal wieder der Turmuhrschlag zu  vernehmen. 

Die drei Laufwerke der Turmuhr haben eine Laufzeit von ca. 36 Stunden. Somit müssen sie täglich von Hand aufgezogen werden.

Seit dieser Zeit erfreut sich Neunheilingen eines einfachen Geläutes und einer funktionierenden Turmuhr die vielen Menschen sagt was die Stunde geschlagen hat. 

Raimund Schmidt, April 2019