Das Pilgerzeichen der Bonifatiusglocke

Das Pilgerzeichen der Bonifatiusglocke von Neunheilingen

von Raimund Schmidt, Martin Sladeczek 01/2019

Pfarrer Falckner schreibt 1927 in einem Aufsatz im „Heilinger Boten“
…. Auf der entgegengesetzten Seite verrät sich freilich echt katholische Art, kitschig in der Darstellung, ein Hochaltar mit dreifachem Stockwerk, in der unteren Etage Gottvater thronend , in der mittleren der Sohn am Kreuz mit den Schächern und oben die Mutter Gottes Maria verklärt. Dieses Bildnis trägt auf ganz schmaler Leiste unten am Fuß auch eine Inschrift, die aber so verbeult ist, daß an ihre Entzifferung nicht zu denken ist, … alle Liebesmüh hierum wird vergeblich bleiben. …..

Nun sind auch heute die Pilgerzeichen und deren Herkunft auch nur ansatzweise erforscht, die europäische Pilgerzeichenforschung ist ein verhältnismäßig junges Forschungsgebiet. Der von Kurt Köster (1912–1986), dem führenden Vertreter der Pilgerzeichenforschung, erstellte Pilgerzeichenkatalog stammt aus dem Jahre 1982. Eine Online Datenbank gibt es seit den 2000 er Jahren.
Während Falckner noch von einer „katholischen Art und kitschigen Darstellung“ spricht und „das an eine Entzifferung nicht zu denken ist“, lässt sich nach dem derzeitigem Stand der Erforschungen unser Pilgerzeichen recht gut interpretieren.

Pilgerzeichen wurden beim Glockenguss in die Form eingelegt. So verwies man auf die Reise, verzierte die Glocke und wollte den Segen der Wallfahrt auf die Glocke übertragen. Wer genau dies veranlasste, ist unklar, wahrscheinlich bedeutet es aber, dass Einwohner des jeweiligen Dorfes diese Wallfahrtsorte aufsuchten.

Es handelt sich um eine Kombination aus zwei Zeichen:
Oben ist ein Pilgerzeichen aus Jena-Ziegenhain zu sehen (eine Madonna auf einem Thron in einem gotischen Architekturrahmen, darunter ein schräggestelltes Wappen mit dem Thüringer Löwen als Zeichen für den Einfluss der wettinischen Landgrafen).
Darunter ein Pilgerzeichen aus Halle in Belgien. Die Inschrift konnte bisher noch nicht sicher gelesen werden, heißt aber wohl „ONS VROUWE VAN HAL“, also „Unsere Liebe Frau von Halle“. In der Mitte erneut Maria auf einem Thron, rechts und links unten ein Betender im untersten Geschoss eines stilisierten Turmes. Darüber je ein Kreis und darüber je ein Engel. Und oben in der Mitte eine Kreuzigungsszene.

Helmut Brall-Tuchel schreibt in „Wallfahrt und Kulturbegegnung“ :

Rätselhaft war zunächst ein ungewöhnlicher Abguss auf der 1476 gegossenen Glocke von Neunheilingen. Eng übereinander waren hier zwei unterschiedliche Pilgerzeichen in den Lehmmantel der verlorenen Form eingedrückt worden. Das obere Zeichen ist leicht zu identifizieren:
Die in einer Ädikula halb frontal thronende Marienfigur mit dem Jesuskind auf dem Schoß, unter deren Füßen ein schräg stehendes Wappen erscheint, dessen Wappenbild – einen steigenden Löwen – man eben noch erahnen kann. Es handelt sich um ein Zeichen aus der Marienkirche von Ziegenhain bei Jena, einer im frühen 15. Jahrhundert entstandenen Wallfahrt, deren Kirche durch den Einbruch der Reformation nie fertig gebaut wurde.73

Durch die Kombination mit dem Zeichen aus Ziegenhain lag die Vermutung nahe, dass es sich auch bei dem zweiten um das Zeichen einer bisher unbekannten Wallfahrt aus dem thüringisch-hessischen Raum handeln könnte – eine Hypothese, die aber nicht weiterführte. Die zufällige Lösung des Rätsels ergab sich bei der Arbeit an der Zentralen Pilgerzeichenkartei Kurt Köster, die eine Karteikarte enthält, auf der ein inzwischen verschollenes Pilgerzeichen aus der Sammlung Franz Claes abgebildet und beschrieben wird, das große Ähnlichkeit mit dem Abguss in Neunheiligen zeigt. Es wiederholt sich die eigentümliche Architektur mit den beiden seitlichen Türmen, die Einteilung des Bildfeldes in ein hoch rechteckiges Mittelfeld, in dem die Gottesmutter auf einem spätgotischen Thron sitzt, die beiden seitlichen hoch rechteckigen Felder, in der jeweils ein Engel und ein Adorant¹ der Gottesmutter zugekehrt knien, die markante Öse mittig unterhalb der Fußleiste und das Schriftband in der Fußleiste, in dem „ons vrouwe …“ stand, was sich mit einiger Mühe auch auf dem Glockenabguss lesen lässt. Das verschollene Pilgerzeichen soll nach der Angabe von Kurt Köster aus der Marienkapelle von Halle bei Brüssel stammen, was durch einige ähnliche fragmentarische Funde
aus den Niederlanden auch bestätigt wurde.Da der Vergleichsfund aus der Sammlung Franz Claes verschollen ist, stellt der Glockenabguss in Neunheilingen gegenwärtig das einzige vollständig erhaltene Zeichen dieses Pilgerzeichentypus
aus Halle dar. Maximilians als ‚Transmissionsriemen‘ solcher Reisen zusammen.

aus „Wallfahrt und Kulturbegegnung“, Schriften des Heimatvereins der Erkelenzer Lande e.V. Nr. 26 von Helmut Brall-Tuchel


¹ Figuren früher Kulturen, deren besonderes Kennzeichen ausgebreitete Arme sind und die im Allgemeinen Anbetende oder Huldigende darstellen sollen